VZ WAZ/VZWAZ-Nr01/VZWAZ-1997_Jan+Feb_0010.pdf

Medien

Teil von WAZ 02.01.1997

extracted text
KULTUR

NUMMER 1 DONNERSTAG, 2. JANUAR 1997

U lf JUL
B E R IC H T U N D H IN T E R G R U N D

Masur geht

Ökumene in Deutschland: Rückblick zum Jahreswechsel

Daniel Goldhagen

Goldhagen
kündigt
Studie an
SAARBRÜCKEN (dpa) Der
amerikanische Historiker
Daniel Goldhagen hat eine
vergleichende Studie über
den Völkermord im 20.
Jahrhundert angekündigt.
Im Saarländischen Rund­
funk verteidigte sich der Holo­
caust-Forscher gegen Kritik an
seinem Buch „Hitlers willige
Vollstrecker’'. Die Analyse hat
sich in Deutschland minde­
stens 145 OOOmal verkauft.
Zur Kritik sagte der Wissen­
schaftler: „Es gibt nichts zu kor­
rigieren in meinem Buch.” Die
Kritik der Wissenschaftler sei
an den zentralen Punkten sei­
ner Arbeit vorbeigegangen.
Auf die Frage, ob Goldhagen
mit seiner These, viele Deut­
sche hätten Hitlers Programm
der Judenausrottung gebilligt,
bei seiner Deutschland-Reise
Feindseligkeit erlebt habe, sag­
te der Historiker: „Das deut­
sche Publikum hat mich herz­
lich empfangen. Ich hatte das
Gefühl, daß sich viele Deutsche
offen mit ihrer Vergangenheit
auseinandersetzen wollen.”

E hrenlegionär Pierre Cardin

Die evangelische Kirche be­
ging den 450. Todestag des Re­
formators Martin Luther, die
deutschen Katholiken freuten
sich über den dritten Besuch
von Papst Johannes Paul II. in
der Bundesrepublik.
Gemeinsam ist beiden Kir­
chen die Sorge um die Zukunft.
Zwar pendelte sich die Zahl der
Kirchenaustritte wieder auf ein
normales Maß ein. Mit Bangen
sehen die Verantwortlichen
aber auf das Jahr 1999, in dem
die große Steuerreform zu er­
warten ist. Sie könnte Einbu­
ßen von bis zu 20 Prozent brin­
gen: Anlaß, sich verschärft Ge­
danken über Prioritäten zu ma­
chen. Beide Kirchen schließen

nicht mehr aus, daß sie aus
Geldmangel Sozialeinrichtun­
gen aufgeben müssen.
Zugleich beklagen die Kir­
chen ihren Bedeutungsverlust
in Staat und Gesellschaft. Alle
ökumenischen Bemühungen,
den Buß- und Bettag als gesetz­
lichen Feiertag wieder einzu­
führen, fruchteten nicht. Trotz
Widerstands der Kirchen wur­
de im Land Brandenburg das
Lehrfach „LebensgestaltungEthik-Religionskunde” zur Re­
gel, der Religionsunterricht zur
Ausnahme. Das letzte Wort
muß das Bundesverfassungsge­
richt sprechen.
In beiden Fällen rückten Pro­
testanten und Katholiken in ih­
rem Protest zusammen. Aber
auch in anderen Bereichen dokumenüerten sie Einheit im
Handeln. Auffällig oft äußerten
sich der Ratsvorsitzende der
Evangelischen
Kirche
in
Deutschland, Klaus Engel­
hardt, und der Vorsitzende der

katholischen Deutschen Bi­
schofskonferenz, Karl I^hmann, mit ähnlichen Worten.
Unisono warnten die Kir­
chen 1996 vor einer Gefähr­
dung des sozialen Friedens.
Auch in ethischen Fragen, wie
etwa in Fragen des Schwanger­
schaftsabbruchs oder der Ster­
behilfe, stehen sich die Kirchen
sehr nahe. Es gebe kaum noch
grundlegende Unterschiede im

Kaum Unterschiede
im Glauben
Giauben, so Lehmann. Und Bi­
schof Engelhardt bekräftigte,
der gemeinsame Konsultati­
onsprozeß zu einem Wort über
die wirtschaftliche und soziale
Lage in Deutschland habe nur
deshalb begonnen werden kön­
nen, weil es diese Übereinstim­
mung gebe.
Dieser Konsens machte es
möglich, daß Bischof Lehmann

Gast bei der zentralen Luther­
feier in Eisleben war. Den Re­
formator nannte er einen „Va­
ter des Glaubens”. Und Bischof
Engelhardt würdigte nach dem
Treffen mit Johannes Paul II. in
Paderborn den Papstbesuch als
„Schub” für die Ökumene.
Dennoch bleiben Unter­
schiede zwischen beiden Kon­
fessionen weiter bestehen. Ge­
meinsame Gottesdienste am
Sonntagvormittag
sollten
„selbstverständlicher” werden,
mahnte Engelhardt beim Papst­
besuch. Für den Mainzer Bi­
schof Lehmann ist die Abendmahlsgemeinschaft ein „Prüf­
stein” für die Ökumene.
Die „Volksökumene” ist aber
angesichts der Probleme, die
beiden Kirchen gemeinsam
sind, immer weniger bereit, die­
se Trennungen noch zu akzep­
tieren. In beiden Kirchen wird
aber davor gewarnt, Unter­
schiede zu verkleistern.
Roland Kauffmann (epd)

Ein neuer
Ballettchef
für Hagen
Der Glücksfall hatte einen
Namen: Richard Wherlock.
Der Ballettchef verließ nun
mit den meisten Tänzern
Hägens Theater. Und sein
Nachfolger, der Franzose
Jean-Jacques Vidal, tritt
nach so vielen Lorbeeren
ein schweres Amt an.
Die erste Premiere - ein Doppelabend - zeigte bekenntnis­
haft, wo man zukünftig hintan­
zen will, zeigte aber auch die
Gefahren dieses Ziels.
Vidal, der selbst bei renom­
mierten Truppen auftrat und in
Marseille und auf Guadeloupe
bereits Compagnien leitete, will
etwas mitteilen, will mit Bewe­
gungen Geschichten erzählen.
Zu Prokofjews drittem Kla­
vierkonzert (die Musik kommt
vom Band) schickt er eine Frau
auf Beziehungssuche. Sie trifft
auf die Gruppe, zu der sie sich so
gerne gesellen würde. Es entste­
hen Traum- und Wunschbilder.
Der Titel „Fliehende Ideale” lie­
fert den Rahmen.
Das alles ist letztlich ein we­
nig vordergründig, gewinnt
aber gerade deshalb doch an
Reiz, weil Vidal eng an der Mu­
sik entlangerzählt. Er weiß ih­
ren motorischen Elan trefflich
umzusetzen. Und gerade zu den
traumverlorenen Sequenzen

Ebenso wurden der Jazz-Gei­
ger Stephane Grappelli und die
Organistin Marie-Claire Alain
sowie Sänger Sacha Distel und
Schauspieler Michel Serrault in
den 1802 von Napoleon ge­
gründeten Ehrenorden aufge­
nommen.
Zu den Geehrten zählen zu­
dem der Philosoph Luc Ferry,
der Architekt der neuen Natio­
nalbibliothek, Dominique Per­
rault, der aus Österreich stam­
mende Chef der Straßburger
Philharmoniker,
Theodor
Guschlbauer, und die Photo­
graphin Bettina Rheims.
Auch die französische Astro­
nautin Claudie André-Deshays
und ihre Raumfahrer-Kollegen
Jean Clervoy und Jean-Jacques
Favier gehören jetzt zum Kreis
der 115 000 lebenden MitgliederderEhrenlegion.
(dpa)

I

nie verabschiedete sich Kurt
Masur als Leiter des Gewand­
haus-Orchesters in Leipzig. Er
wurde nach der Aufführung mit
Ovationen gefeiert. Es gab sogarTränen.
dpa-Bild

te, daß Musik eine wirkungs­
volle Macht sein kann.
In Amerika liebt man Kurt
Masur, sieht man in dem
Künstler, dessen Markenzei­
chen das Dirigieren ohne
Taktstock ist, einen Reprä­
sentanten deutscher Wertar­
beit. Sein Aufstieg in New
York überraschte sogar Insi­
der, denn so charismatisch
wie Bernstein oder so weihe­
voll wie Karajan ist dieser
Pultmann eigentlich nicht.
Die Leipziger, denen er so
lange die Treue hielt, werden
ihren Gewandhaus-Chef ver­
missen. Aber sie sollen ge­
tröstet
werden:
Herbert
Blomstedt. Masurs Nachfol­
ger. ist Güteklasse A.
Ste.

Gefangene
darben in
Finsternis

KUR Z & A K T U E L L
60 000 Jugendliche beim Taizé-Treffen
60 000Teilnehmer besuchten das 19. Europäische Jugend­
treffen der christlichen Gemeinschaft von Taizé, das diesmal
in Stuttgart stattfand. Der Gründer der Gemeinschaft, Frère
Roger, hatte in einem Abschlußgebet zur Versöhnung aufge­
rufen und die Jugend zugleich beschworen, zu den Quellen
des Vertrauens und des christlichen Glaubens zurückzukeh­
ren. Die Hälfte der Gäste kam aus Osteuropa.
(dpa)

StarTrek-Schau
wird verlängert

Prämien für Kinos
mit guten Filmen

Die Kölner „Star Trek”Ausstellung wird wegen des
großen Andrangs bis zum 26.
Januar verlängert. Seit der
Eröffnung Ende Oktober ha­
ben sie schon 100 000 Besu­
cher in der Josef-HaubrichKunsthalle gesehen. UrI sprüngüch sollten die 200
Ausstellungsstücke der pro­
minenten Kino- und Femsehserie, darunter Original­
kostüme und die nachgebau­
te Kommandobrücke des
„Raumschiff Enterprise”,
nur bis zum 12. Januar ge­
zeigtwerden.
(waz)

Innenminister Kanther
wird 1997 wieder Preise an
Filmtheater verleihen, die
künstlerisch wertvolle Pro­
gramme bieten. Die Aus­
zeichnungen bis 40 000 DM
sollen zur Erhaltung der viel­
fältigen Kinolandschaft in
Deutschland beitragen. Sonderpeise werden für gutes
Kinder- und Jugendkino so­
wie für die Berücksichügung
von Kurz- und Dokumentar­
filmen vergeben. Bewer­
bungsunterlagen: Bundesar­
chiv, Potsdamer Straße 1,
56075 Koblenz.
(ap)

Helfer kommt
in Uniform
ln Sarajevo Hunger bekämpft
Für die rund 380 Bewohne­
rinnen und Bewohner des
Heims für geistig und körper­
lich Behinderte in Sarajevo
trägt der Weihnachtsmann
eine Bundeswehr-Uniform
und einen deutschen Namen.
Am 20. November war Haupt­
feldwebel Michael Giermeier
in dem Heim, in dem seit Aus­
bruch des Bürgerkriegs 90
Erwachsene und 36 Kinder
den Hungertod gestorben
sind, aufgetaucht und hatte

Unmenschliche Haft in Peru

<

Die peruanischen Geisel­
nehmer stoßen bei vielen
Peruanern durchaus auf
Verständnis für ihre For­
derung, inhaftierte Kum­
pane freizulassen. Denn
die Haftbedingungen in
Peru sind berüchtigt.
Internationale Menschen­
rechtsgruppen haben immer
wieder die Verhältnisse in den
Haftanstalten des südamerika­
nischen Staates angeprangert.
Vor allem für die 430 inhaf­
tierten Mitglieder der Revolu­
tionären Bewegung Tupac
Amaru (MRTA), zu der die Gei­
selnehmer gehören, bedeutet
das Leben hinter Gittern „all­
täglichen Horror”. Das meint
Francisco Soberon, Leiter der
peruanischen
Menschen­
rechtsorganisation Aprodeh.
In den vier Gefängnissen, in
denen Tupac-Amaru-Guerilleros inhaftiert sind, müssen die
Insassen auf einem Betonblock
schlafen, der tagsüber als Usch
dient. Täglich ist nur eine halbe
Stunden Hofgang erlaubt. Der
Spaziergang erfolgt allein, da­

mit sich die Häftlinge während
der Gefangenschaft nicht se­
hen. Verwandte dürfen die Ge­
fangenen nur eine halbe Stunde
im Monat hinter dickem Ma­
schendraht sprechen, die eige­
nen Kinder sehen sie nur vier­
mal im Jahr.
Die rechteckigen Zellen sind
drei Meter lang und zwei Meter
breit Das karge Essen empfan­
gen die Häftlinge durch einen
Türschlitz. So wird der physi-

PERU*’
■ H H H H B H i
sehe Kontakt mit den Wächtern
verhindert und die absolute Iso­
lation verstärkt. In den Zellen
gibt es kein Licht. In zwei Meter
Höhe, über der Tür, fällt durch
eine 15 Zentimeter breite Luke
nur kurze Zeit etwas Tageslicht.
Danach herrscht Halbdunkel
oder totale Finsternis. Die Häft­
linge werden rund um die Uhr
von Kameras überwacht.
„Die Gefängnisse sind für die
MRTA-Kämpfer wahre Gräber,

Was sich 1997 ändert

Es werde Licht
Fotoband von Jeanloup Sieff
Die Frau (Helen Rosenthal, links) mit einer Gruppentänzerin (Maira Becker).

dieses grandiosen Klavierkon­
zertes findet die biegsame, so
gar nicht auftrumpfende Helen
Rosenthal als orientierungslose
Frau beredte Kraft.
Dann formt Vidal Mozarts
„Requiem” - warum die monu­
mentale Aufnahme Karajans? zu einem Reigen von Sterbebildem, die freilich über weite
Strecken eher Revuecharakter
haben. Die Mutter und ihr totes
Kind, ein schwules, durch Aids
entzweites Paar, auseinander-

Mit Ovationen, Tränen und
der Ernennung zum Eh­
rendirigenten ist die Ära
Kurt Masurs als Chef des
Leipziger Gewandhaus-Or­
chesters nach einem Kon­
zert am Silvesterabend zu
Er.de gegangen.

Mit Beethovens neunter Sinfo­

Es ist ja gar nicht so, daß
Deutschland arm an vorzüg­
lichen Kapellmeistern ist.
Wolfgang Sawallisch, Günter
Wand, Heinz Wallberg, Gerd
Albrecht - sie alle genießen
internationale Reputation.
Aber Kurt Masur, der nun
in Leipzig mit einer fulminan­
ten, vom MDR-Femsehen
übertragenen Neunten Lud­
wig van Beethovens seinen
Abschied genommen hat, ist
ein besonderer Fall, gehört er
doch zu den Symbolgestal­
ten der politischen Wende.
Dabei genoß Masur in der
ehemaligen DDR das Ver­
trauen der Jasager und zeig­

Auf Verständnis bei vielen Peruanern stoßen die Tupac-Amaru-Rebellen in der japanischen Bot­
schaft. Die Guerillas kämpfen auch für bessere Haftbedingungen ihrerGesinnungsgenossen.

in denen unsere Genossen bei
lebendigem Leib umkommen”,
verkündete der Rebellenchef
Cartolini, nachdem er vor zwei
Wochen Hunderte von Geiseln
in der Residenz des japanischen
Botschafters genommen hatte,
um seine inhaftierten Gesin­
nungsgenossen freizupressen.
Dabei hatte das Rote Kreuz
dem peruanischen Präsidenten
Fujimori in einer Vereinbarung
1993 die Verpflichtung zu bes­
seren Haftbedingungen abgerungen. Doch nach der Beset­
zung der Botschaft am 17. De­
zember setzte die Regierung al­
le Besuche erst einmal aus.

Für jeden Gefangenen stellt
der Staat 1,30 US-Dollar (rund
zwei Mark) täglich für Verpfle­
gung bereit - gerade genug für
einen Liter Milch. So müssen
die Familienangehörigen von
außerhalb das Überleben der
Gefangenen mit Essen und war­
mer Kleidung sichern.
Krankheiten wie Tuberkulo­
se gehören vor allem in der in
4000 Meter Höhe gelegenen
Anstalt von Yanamayo in der
Nähe von Puno zum Alltag.
Wer ärztliche Hilfe braucht,
muß Wochen auf einen Arztbe­
such warten. Fernsehen, Radio
und Zeitungen sind verboten -

ap-Bild

als einziges Buch kursiert die
Bibel unter den Gefangenen.
Nach Meinung des Menscnenrechtlers Soberon sind
die unmenschlichen Haftbe­
dingungen Teil des Kampfes der
Regierung gegen die Rebellen.
Auch der Terrorismusexperte
Gregori sieht die Repression in
den Gefängnissen in Verbin­
dung mit dem Kampf gegen die
Guerilla. „Wenn die MRTA er­
klärt, daß sie die Waffen nieder­
legen will, würden die inhaftier­
ten Rebellen für die Regierung
nicht mehr als Kriegsgefangene
gelten”, meinte Gregori.
Esteban Engel (dpa)

Schüsse auf die Polizei
Ehemaliger SS-Mann soll aus USA ausgebürgert werden

gerissene Liebende - der Weg ist
vorgezeichnet und endet mit
schwarzen Engeln in der Büh­
nenversenkung auf recht bra­
chiale Weise: ex und hopp!
Bei diesem von Robert
Schräg stimmig ausgestatteten
Weg in die Ewigkeit ist Frau Tod
(Dominique Casanova verzich­
tet ganz auf Pathos und setzt auf
gezirkelte, beherrschte Bewe­
gungen) die Führerin. Manches
gerät an die Grenzen der Platti­
tüde, ist einfach zu plakativ.

Bild: D. Dettmann

Hägens neue Compagnie hat
noch nicht den hohen Standard
von Richard Wherlocks alter
Truppe, wird aber zweifellos
homogener zusammenrücken.
Vieles in dieser auch mit skulpturalen Elementen arbeitenden
Choreographie wird allerdings
mit Intensität erfaßt.
Nur: Man kann viel erzählen.
Aber auch Geheimnisse, die im
Abstrakten gründen, können
reizvoll sein. Michael Stenger

Ehre für
Cardin und Masur geht mit gemischten Gefühlen
Hallyday
Abschied vom Chef des Gewandhaus-Orchesters am Silvesterabend
Der Rocksänger Johnny
Hallyday und der Mode­
schöpfer Pierre Cardin
sind von Staatspräsident
Chirac in die französische
Ehrenlegion aufgenommen
worden.

NUMMER 1 DONNERSTAG, 2. JANUAR 1997

A U F EIN W O R T

Durch Höhen und Tiefen
Für die beiden großen Kir­
chen in Deutschland ka­
men weder die Höhen
noch die Tiefen des Jah­
res 1996 überraschend.
An beiden Enden der Ska­
la gibt es Gemeinsames.

1

26 Jahre leitete der 69jährige
den über250 Jahre alten Klang­
körper. Ursprünglich hatte er
seinen Vertrag bis 1998 verlän­
gern wollen, bis sein Nachfolger
Herbert Blomstedt das Amt
übernimmt. Im Sommer zog er
seinen Schlußstrich früher.
Mit ihm dankt in Leipzig ein
ebenso geliebter wie gefürchte­
ter Patriarch ab. Der internatio­
nal geachtete Masur hatte in der
DDR Einfluß. Der Neubau des
akustisch wie architektonisch
vielgelobten Gewandhauses ist
nicht zuletzt ihm zu danken.
„Für die Musiker tat er alles. Er
beriet bei Familienstreitereien
und nutzte seine Kontakte bei
Wohnungsproblemen”, erzählt
ein Orchestermitglied.
Nachdem Masurs Frau 1972
bei einem von ihm verschulde­

ten Unfall ums Leben kam, sei
die Bindung noch inniger ge­
worden. Dann brachen andere
Zeiten an: Im Herbst 1989, zur
Zeit der Montagsdemonstratio­
nen, wurde Masur Politiker wi­
der Willen. Er gehörte zu den
Mitunterzeichnem des Aufrufs
zur Gewaltlosigkeit.
Masur wird ein entscheiden­
der Anteilbei der Verhinderung
eines Blutbades zugeschrieben.
Er hatte schon aufhören wol­
len, aber die Sorge um die Zu-

Oer Sprung über
den großen Teich
kunft des Gewandhauses nach
dem politischen Umbruch ließ
ihn nicht los. Nicht zuletzt des­
halb wagte er den Schritt über
den großen Teich.
Seit 1991 leitet Masur die
New Yorker Philharmoniker
und sein Erfoig in der Neuen
Welt warf auch Glanz auf Leip­
zig. Dennoch begannen die
Probleme. Als Gewandhauska­
pellmeister ist man auch Inten­
dant des Hauses. Masur mußte

Termine: Tel. 02331/2073218.

immer wieder um Geld kämp­
fen. Im Orchester rückte eine
jüngere
Musikergeneration
nach, die Forderungen stellte
an das Repertoire, die auch ei­
fersüchtig war auf lukrativere
Plattenaufnahmen Masurs mit
den New Yorkem.
In der Oper begann der Auf­
schwung des Intendanten Udo
Zimmermann und der Kampf
um den Spitzenplatz in Leipzigs
Kultur. Masur verlor seine Sou­
veränität. Im Sommer 1996
schien das Maß voll. Die Musi­
ker setzten bei der Wahl des
Nachfolgers ihren Wunsch­
kandidaten Herbert Blomstedt
durch, der dann in Abwesenheit
Masurs der Öffentlichkeit vor­
gestellt wurde. Eine Änderung
der Betriebssatzung des Ge­
wandhauses wurde ohne Rück­
sprache mit Masur beschlos­
sen: ein Schlag ins Gesicht
In einem der wenigen Inter­
views erklärte er: „Da ich neu­
erdings nur gebraucht werde,
um abzubauen, was ich aufge­
baut habe, bin ich nicht mehr
richtig am Platz.”
Markus Deggerich (dpa)

Mit 14 Jahren bekam Jean­
loup Sieff eine Kamera ge­
schenkt. Da ging es ihm wie
vielen anderen Jungen, nur
wurden die nicht so bekannt.
Der heute 64jährige hat die
Kunst der Fotografie mitge­
staltet, hat Mode und Zeitge­
schichte gleichermaßen in
seinen Bildern festgehalten,
Sichtweisen geprägt.
Davon kündet das Buch

Jeanloup Sieff - 40 Jahre
Fotografie (Benedikt Ta­
schen Verlag, 288 S., 244
Abb., 49,95 DM). Sieff, als
Sohn polnischer Eltern in Pa­
ris geboren, arbeitete sowohl
für Modezeitschriften wie „El­
le" und „Vogue” als auch für
das kritische Fotografenkol­
lektiv „Magnum".
Sieffs Bilder sind nie kalt,
überschart und direkt, wie die
Werke vieler aktueller Foto­
grafen. Seine Bilder sind dif­
ferenziert aufgebaut, so daß

der Betrachter erst allmählich
die Gesamtkomposition er­
faßt. Oft modelliert Sieff seine
Motive aus dem Dunklen her­
aus: Ein heller Punkt ent­
puppt sich beim genauen
Hinsehen ais Schwan auf ei­
nem Teich, als Totenkopf in
einer Katakombe.
Spiegel, Fenster
und Flure leiten
den Blick und sorJ gen dafür, daß den
darin sichtbaren Personen gerade den Frauenakten - ein
Hauch von Diskretion bleibt.
Landschaften - etwa die
Furchen eines nassen Stran­
des - wirken vermenschlicht,
Körper und Gesichter werden
zu Landschaften. Für Sieff ist
Fotografie nie Abbild, son­
dern Ahnung. Damit ver­
schmelzen Fotograf, Motiv
und Betrachter zu einer ver­
schworenen Einheit.

S

Rente

äM

Beitragssatz zur RentenGesetzliche''
Sicherung:
Erhöhung von 19,2 auf 20,3 % Krankenversicherung
Kürzung des Krankengeldes
Anrechnung von nur noch drei
Ausbilderngsjahi
Zuzahlung bei Medikamenten
(bisher sieben)
steigt um 1 DM
Kein Zuschuß zum Zahnersatz
für Kinder und JugencBiche
(außer Unfälle)
Kuren höchstens drei Wochen,
Anrechung von zwei Uriaubstagen
je Woche, Zuzahlung täglich
25 DM (West), 20 DM (Ost)

KANSAS CITY (ap) Ein mut­
maßlicher ehemaliger SSMann hat in den USA das Feuer
auf Reporter eröffnet und ist
daraufhin von der Polizei ange­
schossen worden.
Der aus Kroatien stammende
79 Jahre alte Michael Kolnhofer
soll ausgebürgert werden, da er
bei der Einwanderung fälsche
Angaben über seine Vergan­
genheit gemacht haben soll.
Ihm droht damit die Auswei­
sung aus den USA. Nach USErmittlungen gehörte er zur
Wachmannschaft der deut­
schen
Konzentrationslager
Sachsenhausen und Buchen­
wald.
Mit einer Schußwaffe in der
Hand wollte Kolnhofer warten­
de Journalisten vor seiner
Haustür vertreiben. Als er auf
sie zielte, zogen sich die Repor­
ter zurück. Als die Polizei er­
schien, schoß er, die Beamten
erwiderten das Feuer. Kolnho­
fer wurde mindestens einmal
ins Bein geschossen. Sein Zu­
stand wurde als stabil bezeich­
net.

IN
SARAJEVO
NOTIERT

schlicht
gefragt:
„Was
braucht ihr?"
Mit dem vor Freude fas­
sungslosen Heimleiter war er
dann zum Markt gefahren
und hatte eingekauft: drei
Tonnen Kohl, 160 Sack Kar­
toffeln, 200 kg Äpfel, 100 kg
Zwiebeln, fünf Sack Knob­
lauch, 120 kg Mandarinen.
„Und dann habe ich ihm noch
1000 Mark gegeben, um eine
ganze Kuh zu kaufen - das
letzte Frischfleisch hatten die
Menschen vor dem Krieg be­
kommen”, berichtet Giermei­
er, ein 47jähriger Bayer aus
Passau, Familienvater mit

zwei Töchtern, ein gemütli­
cher Typ und trotzdem ener­
gisch und zielbewußt. Für ihn
hatte von vornherein festge­
standen: „In Bosnien will ich
helfen.”
Alserseinen Marschbefehl
nach Sarajevo erhielt, sammmelte er an seinem Standort
Erndtebrück im Wittgenstei­
ner Land binnen zwei Tagen
3850 DM Startkapital. Wo die
Not am größten war, sagte
ihm dann vorOrt eine UN-Mitarbeiterin.
Gierstein ist nur einer von
ungezählten deutschen „En­
geln in Uniform", die in Bosni­
en und Kreation ohne viel
Aufhebens in ausschließlich
privater Initiative einzelnen
Menschen in Not ebenso hel­
fen wie Kindergärten, Wai­
senhäusern und Hospitälern.
Das Geld kommt aus der Hei­
mat, wird vom eigenen Sold
abgezweigt oder mit allerlei
pfiffigen Ideen zusammenge­
kratzt.
Der Wunsch der deut­
schen Engel in Uniform, die
Not der Opfer des brutalen
Krieges zu lindem, ist unge­
brochen. Auch Stabsfeldwe­
bel Giermeier will bis zum En­
de seines Einsatzes am 11.
Februar- und wohl auch noch
darüber hinaus - weiterma­
chen.
Am
heimatlichen
Standort Giermeiers hat man
bereits wieder Geld und Klei­
dung gesammelt. Jetzt geht
es darum, das Heim mit Medi­
kamenten auszustatten.

Detlef Rudel

W echsel am
Steuer der
Autoindustrie

Mit einer Pistole zielt Michael Kolnhofer auf wartende Journalisten
vor seinem Haus.

ap-Bild

Beim Verband der Deut­
schen
Automobilindustrie
(VDA) hat es mit dem neuen
Jahr einen Führungswechsel
gegeben. Frau Erika Emme­
rich (62) übergab das Steuer
an Bernd Gottschaik (53).
Die ehemalige Leiterin des
Kraftfahrt-Bundesamtes in
Flensburg war die erste Frau
an der Spitze des VDA. Der
neue Präsident Gottschalk
war im August überraschend
aus dem Mercedes-BenzVorstand ausgeschieden, wo
er seit 1992 den Nutzfahr­
zeug-Bereich verantwortete.
Zuvor managte der gebürtige
Lübecker und promovierte
Volkswirt die MercedesTöchter in Brasilien.
Als VDA-Präsident sieht
Gottschalk auch für 1997
Chancen für eine gute Ent-

Zur Person
Bernd Gottschalk
Wicklung der Autokonjunktur.
Der überraschende Auf­
schwung werde getragen
„von einer Welle der Investi­
tionen in die Modellpolitik”.
So habe die Branche 1995 in
Deutschland rund 11,4 Mil­
liarden DM investiert. 1966
seien es 20% mehr gewe­
sen.
lono

Michael Vaupel

Kein Ende von Terror und Mord in Algerien
Der Bürgerkrieg dauert bereits fünf Jahre - Islamisten auf dem Vormarsch - 200 Anschlags-Tote pro Monat
Mehr als 200 Menschen
werden in Algerien jeden
Monat Opfer des Terrors
islamischer Fundamentali­
sten und des Gegenter­
rors der Ordnungskrifte.
Ein Ende des Bürgerkrie­
ges, der vor fünf Jahren
begann, ist nicht abzuse­
hen.
Der Islam marschiert weiter
in Algerien - mit offizieller Ab­
segnung. Was vor fünf Jahren
von den Islamisten angestrebt
worden ist, wird fast alles Wirk­
lichkeit. Außer der Machtüber­
nahme durch die „Bärtigen”,
der Rückkehr der Frauen an
den häuslichen Herd und der
Bildung eines „Gottesstaates”
nach iranischem Vorbild.
Der Kampf um die Unabhän­

gigkeit Algeriens kostete eine
Million Menschen das Leben.
1962 endete nach 130 Jahren
die koloniale Beherrschung
duch die Franzosen. Danach
ruinierte eine von der Armee
gedeckte Einheitspartei das
Land. 1989 begann ein demo-

Über den algerischen
Bürgerkrieg berichtet
Emii Bölte
kratischer Prozeß, mit dem die
Korruption beseitigt werden
sollte. Er scheiterte, weil die G e­
neräle den Mut verloren.
Ende Dezember 1991 sam­
melte die Islamische Heilsfront
(FIS) die Proteststimmen bei
der ersten demokratischen
Wahl. Erschreckt annullierte

die Armee das Ergebnis Anfang
1992. Die Heilsfront wurde ver­
boten. Islamische bewaffnete
Gruppierungen gingen in den
Untergrund. Sie nahmen den
Kampf gegen das Regime auf.
Allein im vergangenen Dezem­
ber wurden fünf Massaker in
Algerien gezählt. Dutzende
Menschen wurden getötet.
Ende 1995 sah es so aus, als
könnte der vom Militär als Prä­
sident eingesetzte Ex-General
Zeroual den unterbrochenen
demokratischen Prozeß wie­
deraufnehmen und zum Erfolg
führen. Auf demokratische
Weise wurde er vom Volk ge­
wählt und damit im Amt bestä­
tigt. Danach freilich wurde aus
seinen Versprechungen nichts.
Und ein Jahr später änderte Ze­
roual, Frontmann der Armee,

die Verfassung auf drastische ' schaftszeitung kommentierte
den Vorgang mit den Worten:
Weise in einem Referendum.
Das Parlament ist entmach­ „Fünf Jahre für nichts. Algerien
tet, und der Präsident ist - von ist heute nicht von dem zu un­
seinen Hintermännern abgese­ terscheiden, was daraus gewor­
hen - allmächtig. Erstaunlich an den wäre, wenn die Machtha­
der neuen Politik aber ist, daß ber das Urteil an den Urnen
sich Zeroual nun auf eine kon­ 1991 akzeptiert hätten.”
Die französische Regierung
servativ-islamische Strömung
zu stützen scheint. Arabisch ist sagt nichts dazu. Paris bewegt
mm die einzige offizielle Spra­ nur die eine Sorge: Wie kann
che. Die Kultur der Berber wird verhütet werden, daß sich eines
ebenso verbannt wie die franzö­ Tages ein großer Teil der jungen
Algerier in Richtung Frank­
sische Hinterlassenschaft.
Der Islam ist laut veränderter reich in Bewegung setzt, wo die
Verfassung Staatsreligion, wie Chancen freier Entwicklung
es vom FIS vor dem Verbot die­ trotz der Massenarbeitslosig­
ser Partei gefordert worden keit immer noch größer sind?
war. Ein Islamischer Hoher Rat Die Sorge ist verständlich.
wird gebildet, und Praktiken, Noch sprechen die jungen Al­
die „im Widersprach zur islami­ gerier Französisch. Und von
schen Moral” stehen, sind ver­ den 28 Millionen Algeriern sind
boten. Eine Pariser Wirt­ über 50% unter 20 Jahre a lt